Samstag, 29. Oktober 2011

Von Alltag und anderen Überraschungen

Es ist eine kleine Weile her, seitdem wir etwas von uns haben hören lassen. Doch kein Grund zu glauben, es gäbe nichts zu berichten aus unserem neuen Leben hier. Ganz im Gegenteil wissen wir manchmal gar nicht, wie wir all die Eindrücke und Erlebnisse in Gedanken und Worte fassen sollen, wie wir euch an all dem teilhaben lassen können, was uns in jedem Moment in Staunen und Begeisterung versetzt, uns glücklich macht und uns erkennen lässt, genau hier genau richtig zu sein. Aber nun ist es soweit, ich wage den Versuch, all das zusammenzutragen und euch für einige Augenblicke in unser wunderbares Hostelleben zu entführen...
Wie sieht so ein Tag aus, als große Schwester 41 entzückender kleiner und großer Wirbelwindkinder? Meist kunterbunt und fröhlich, oft chaotisch und voller Überraschungen. Im Grunde gibt es natürlich einen festen Tagesplan, nur wenn es etwas gibt, dass uns unsere ersten zwei Monate im Projekt gelehrt haben, dann das: In Indien mag es zwar einen Plan geben, aber nur, um später zu erkennen, dass doch alles ganz anders kommt. 

So begannen unsere Tage im September pünktlich um 6 Uhr morgens mit lauten Rufen und Getrappel der Kleineren, die mit uns im ersten Stock residieren. An Schlaf war dann kaum noch zu denken. Spätestens um halb 9, wenn alle anderen mit dem morgendlichen Yoga, ihren Hausaufgaben und der Wäsche fertig sind, schaffen auch wir es dem Klopfen und den Rufen nach „Anni Akka, Jo Akka, Tindi ke bani!“ nachzugeben und die Tür zu öffnen. Wenige Augeneblicke spätersitzen wir auch in der Dining Hall, vor uns das über der Feuerstelle zubereitete Frühstück.


Wenn sich dann langsam gegen halb 10 Uhr die Kinder auf den Weg in Ihre Schulen machen, entweder zu Fuß, auf dem Fahrrad, mit dem Bus oder auf der Ladefläche eines kleinen Gemüsetransporters zwischen Kokosnüssen und Maiskolben, geht es für uns ans Eingemachte:

Entweder nehmen wir den Kampf mit der Ameisenfamilie auf, die sich über Nacht über unsere leckeren Kekse hergemacht  hat, oder wagen uns an drei volle Eimer schmutziger Wäsche, die sich hier –das versteht sich von selbst- mit der Hand, Seife und einer kleinen Bürste reinigen lässt. Auf dem Weg zur Wäscheleine erwartet uns die nächste tierische Überraschung, eine ungeheuer große Schar Libellen, die gerade in der Paarungszeit wie verrückt umherschwirren. Wir –ganz Tierfreunde geworden- nehmen es gelassen und hängen unsere Wäsche an eine andere Leine, die zwischen zwei Mangobäumen gespannt ist. Zur Erfrischung gibt es eine selbstgepflückte Papaja aus dem eigenen Garten oder einen Kaffe, der uns an deutschen Latte Macchiato erinnert und den wir stets in Gesellschaft unserer Lehrerinnen genießen. Mamatha und Roopa möchten keine Gelegenheit missen, um unser Kannada zu verbessern. „Washing sakka? Susto? Ah, Coffee beka? Chenagidivi!“ 

Zurück in unserem Zimmer und die frischgewaschene Unterwäsche auf der geheimen Leine in unserem Bad wissend, lassen wir uns auf die Betten fallen, den Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, die von zahlreichen Ideen in Form bunter Zettel geziert ist. Im Laufe der Zeit haben wir aus dem Zimmer ganz unser Zuhause gemacht: Nicht nur durch die Fotos unserer Liebsten, die gleich neben dem Kopfkissen hängen. Auch der großen Indienkarte an der anderen Wand haben wir eine ganz persönliche Note gegeben: Alle Orte, die wir während unserer Zeit hier besuchen, werden durch einen Bindi, der im Hinduismus eigentlich als drittes Auge auf der Stirn ein absolutes Muss ist, markiert.

Manchmal darf auch ein Skypetelefonat nach Hause nicht fehlen...
An manchen Tagen erwartet uns wenig später eine abenteuerliche Tour nach Tarikere, unser kleines 12 km entferntes Städtchen. Auf dem Weg dorthin, in einer meist hoffnungslos überfüllten Rikscha bietet sich immer wieder die Gelegenheit, unseren neugierigen Mitfahrern zu erklären, wer wir „Foreigners“ denn eigentlich sind und woher wir kommen. „Nana hessaru Jo, nana uru Germany. Working for VIKASANA samaste Tarikere. Chenagidirah?“. 20 Minuten später und schlappe 20 Rupee, weniger als 50 cent, ärmer erreichen wir die lebhafte Hauptstraße, entschließen uns erst einmal das Material für unsere neuen indischen Outfits zum Schneider zu bringen, bevor wir ein leckeres Mittagessen oder einen frischgepressten Ananassaft in unserem liebsten Snackladen zu uns nehmen. Nachdem wir uns mit den nötigen Keksvorräten und kiloweise frischem Obst und Gemüse für weniger als zwei Euro eingedeckt haben, geht es noch einmal ins Office der NGO, auf einen Chai mit unserem Direktor Sir, manchmal wird konstruktiv geplant, manchmal nur ein bisschen geklönt. Auf den Heimweg machen wir uns dann in Gesellschaft von mehreren Kilo Reis und Milch, die von dem Fahrer Gopi ins Hostel gebracht werden. Bei rasanter Fahrt durch den ohnehin undurchschaubaren indischen Verkehr genießen wir den kühlen Fahrtwind und die dröhnende Musik, ein Mix aus westlichen Popsongs und indischen Gesangskünsten, lassen unseren Blick aus dem Fenster schweifen.


Es geht vorbei an Maisfeldern, Kokosnusspalmen und Bananenplantagen, unsere Gedanken tanzen in mitten dieser wunderschönen Szenerie. Da reißt uns eine laute Melodie aus den Tagträumen, die ankündigt, dass der Rückwärtsgang eingelegt wurde – Ja, nicht genug damit, dass jeder immer und überall lautstark Songs auf seinem Handy abspielt, überall laut gehupt und gerufen wird, auch der Rückwärtsgang verfügt über sein ganz eigenes Geräusch. 

Ankommen. Freudige Rufe, auf uns zueilende Kinder, die es gerade aus der Schule zurück kaum erwarten können, mit Anni Gummitwist zu hüpfen oder mit mir Mysore Monkey –das deutsche Schweinchen in der Mitte- zu spielen. Nach der Playtime warten jede Menge Studies auf unsere kleinen Schützlinge, die in den letzten beiden Septemberwochen täglich ein Examen zu bewältigen hatten. Wir staunen nur über die Disziplin und den Arbeitseifer dieser Kinder, die nach dem Snack um 6 Uhr erneut über ihren Büchern büffeln. Doch dann ist es soweit, die Exams geschafft stehen die Ferien vor der Tür. 


Und wie es der Zufall hier immer wieder so will, fällt der letzte Schultag auf den Geburtstag unserer lieben Shruthi. Ein Tag, der mit einer Überraschungsfunction für Shruthi beginnt,  während der wir unsere selbstgebastelte Geburtstagskrone und ein euch bestimmt bekanntes, hier aber vollkommen neues Ritual einführen.  Während alle anderen lauthals ein freudiges Ständchen trällern, lassen wir das gekrönte Geburtstagskind hochleben. Ein unglaublicher Spaß, der ab sofort Teil eines jeden Geburtstags in Chattanahalli sein wird. Nicht genug der Überraschungen, am Abend erwartet uns eine uns gewidmete Welcome function, eine Zeremonie, die von den Kindern geplant viele beeindruckende Tänze und kleine Theaterstücke enthält und uns einmal mehr zeigt, wie willkommen wir hier sind.


Die Zeit verfliegt, es beginnen die Ferien. Am zweiten Oktober ist Gandhi Jayanthi, der Geburtstag des Nationalhelden Indiens. Uns erwartet an diesem Tag die erste Begegnung mit den Eltern und Familienmitgliedern unserer Liebsten. Nach einem interessanten Elternabend heißt es Abschied nehmen. Nach nicht einmal einem Monat hier macht es uns schon so traurig, unsere Kleinen für die Desarafesttage gehen zu lassen, dass wir uns gar nicht ausmalen möchten, wie schwer uns ein endgültiges Adieu fallen mag. 

In der kommenden Woche fühlt sich das Zusammensein mit den verbleibenden Kindern dafür umso vertrauter an: Unsere kleine Ferienfamilie verlebt schöne Tage, morgendliches Yoga auf dem Dach, viele Spiele, einmal gibt es sogar selbstgemachte Pommes. Nachmittags fliegen bunte Sandbälle in den strahlend blauen Himmel, neben mir lacht glucksend ein Kind über ein selbstgemaltes Kreidebild, in meinem Arm schmiegt sich ein Anderes ganz fest an mich, in seiner Hand ein frischgeknüpftes Scubidouband. Das Glück wohnt mitten unter uns.


Doch was wäre Indien ohne seine religiösen Feste und Feierlichkeiten?  Unsere erste Begegnungen mit den farbenfrohen Hindufesten: Pooja und Vijayadashami. 

Aber der Reihe nach, Pooja, der hinduistischen Variante des christlichen Segens, ist ein ganzer Tag gewidmet. Im Rahmen des Desarafestes machen wird also am Morgen eines wunderschön sonnigen Oktobertages alles bereit für die Hostelzeremonie.

Es wird gewuselt und geputzt, wenig später schmücken Blumen alle hosteleigenen elektronischen Geräte und Fortbewegungs-mittel. Dann geht es los, Roopa Miss und die Kinder segnen mit roter und gelber Farbe alles, was Ihnen in die Finger kommt. 
Wir staunen nicht schlecht, als wenig später bunte Punkte und Blüten sogar unsere Laptops zieren. Als selbst die Kühe –zwar weder elektronisch, noch der Fortbewegung zweckmäßig, aber eben grundsätzlich immer heilig- unseren Segen haben, gibt es Festtagsfrühstück, bevor wir uns das erste Mal ganz alleine mit unseren kleinen Schützlingen auf ins nahegelegene Chattanahalli machen, um der Einladung unser neugewonnenen Tantchenfreundinnen zu folgen. 


So finden wir uns wenig später in einem kleinen Wohn-Schlaf-Esszimmer wieder, auf unserem Schoß ein Teller voller Köstlichkeiten. Ein Blick in die Gesichter unserer Kinder füllt mein Herz mit Glück und Freude. Freude darüber, dass unsere Aunty hier keinen Unterschied zwischen den low-caste-Kindern und den weißhäutigen Foreigners macht und allen die Teller mit demselben Essen füllt, alle satt und glücklich machen möchte. Auf dem Heimweg halten wir uns die vollen Bäuche, hüpfen Hand in Hand die Straße entlang und singen laut „If you’re happy and you know it.“ 


Am darauffolgenden Tag machen wir uns am späten Nachmittag wieder auf nach Chattanahalli, um der dorfeigenen Yijayadashami-Zeremonie  beizuwohnen.
Die Sonne steht bereits tief, als sich alle auf dem erdigen Grund zusammenfinden, um dem faszinierenden Spektakel zuzusehen: Ein gegeißelt wirkender Mann taumelt durch die Menge, ihm soll Gott innewohnen. Als er schließlich mit einem entzündeten Pfeil eine Bananenstaude trifft, ertönen laute Rufe der Begeisterung. Es gehen junge Männer zu den Schaulustigen, verteilen Bananen und Körner aller Art.


Unsere Hände voller gesegneter Gaben fällt Shruthi plötzlich auf, dass einer der Kinder den Hostelschlüssel auf dem Weg verloren haben muss. Nach einer erfolglosen Suche auf dem Heimweg versuchen wir die Vorhängeschlösser mit Steinen zu zertrümmern, während Anni in der Abenddämmerung verbrechermäßig über eine wackelige Bambusleiter in den Innenhof einsteigt, um wenigstens die Küche zugängig zu machen. Hauptsache ein warmes Abendessen, dann eine geruhsame Nacht im oberen Stock, zu dem wir unseren eignen Schlüssel glücklicherweise nicht aus der Hand gegeben hatten. Am nächsten Morgen klopfen wir so lange auf das Schloss ein, bis es der groben Gewalt nachgibt und den jubelnden Bewohnern Zutritt zu ihrem Zuhause verschafft. …nice try, India!

Was gibt es sonst noch zu berichten? 

In der Zwischenzeit haben wir auch ein Wochenende mit der Familie unseres Direktor Sirs verbracht: ein sonntäglicher Besuch der christlich-katholischen Messe, deren Gemeinde lautstark zu den Orgelklängen eines kitschig klingenden Keyboards das Vater unser anstimmt, ein Spaziergang durch das hauseigene Jungelparadies, Sternfrüchte und Datteln frisch vom Baum gepflückt, betörend gutes Essen, Familienfotos und Gespräche mit dem sonst so geschäftigen Sir in entspannter Manier und eine Longa, einen karierten Wickelrock für Männer, tragend. 


Und da hätte ich doch fast vergessen, das absolute Highlight für unsere Kinder zu erwähnen. Nach einem langen Tag in Tarikere werden wir ganz spontan in Chattanahalli abgesetzt, es soll ein Dorffest geben, auf dem unsere talentierten Tanzmäuse auftreten. Es ist schon dunkel, wir tappen durch die verlassenen Gässchen unseres Dörfchens, folgen der Musik und den begeisterten Rufen bis zum Festplatz. Unsere Mädels schwingen gerade zu einem fetzigen Kannadasong die Hüften, als wir uns gerade gesetzt schon gefragt werden, ob wir uns nicht der gesamten Gesellschaft kurz vorstellen wollten. Einen Augenblick später stehen wir vor der versammelten Meute, im Scheinwerferlicht surren uns Moskitos entgegen, laut prasselt der Regen auf das Wellblechdach. Knacks, das Mikrofon gibt ein seltsames Geräusch von sich „Namakara, Nana hessaru Anni, nana hessaru Jo. Nana uru Germany. We work with VIKASANA NGO Tarikere and we live in Chattanahalli Hostel together with this wonderful 41 dancers.” Schon positioniert sich der erste junge Mann mit seiner Handykamera vor uns, es werden Rufe nach einem Gesangsbeitrag laut. „Song, Madame!“ Wir zaubern das deutsche Kindermutmachlied aus dem Ärmel, nach freudigem Applaus gibt es noch eine Zugabe „If you‘re happy and you know it.“ Das Publikum klatscht, stampft und schnippt fleißig mit. Es scheint so, als seien alle happy und wüssten es auch. Ganz so wie wir, die wir in die stolzen Augen unserer Lieblinge blicken und wissen, wie glücklich sie über ihre großen tollen Akkas sind, ohne zu wissen, wie glücklich wir darüber sind, für sie da zu sein!