Donnerstag, 23. Februar 2012

"Blicke der Sonne entgegen, dann fallen die Schatten hinter dich!" - eine Lebensgeschichte

Sie ist ein außergewöhnliches Mädchen. Nicht allein die soziale und extrovertierte Art, ihr selbstbewusstes Auftreten und ihre große Hilfsbereitschaft machen die 15-Jährige zu etwas Besonderem. Auch fällt Priya* im Zusammenleben mit den anderen Kindern in der Brückenschule stets die Rolle der Akka, der großen Schwester, zu. Man vertraut ihr seine persönlichen Angelegenheiten an, findet ein offenes Ohr oder eine Schulter zum Anlehnen, erhält Unterstützung und Rat.


Wenn sie die bevorstehenden High School Abschlussprüfungen der zehnten Klasse gemeistert hat, wird ein neues Kapitel beginnen, zwei Jahre Pre-University Courses im College - ein weiterer Schritt auf dem Weg, ihren großen Traum zur Wirklichkeit zu machen. Anwältin zu werden, das ist es nämlich, was Priya sich schon immer gewünscht hat.

Die Vergangenheit 

Nach dem Selbstmord ihrer Mutter Ranjitha lässt auch der junge Vater Kumar seine drei Töchter Latika, Shwetha und Priya zurück, rennt mit der damals nur wenige Monate alten, jüngsten Tochter Shilpa davon und heiratet ein zweites Mal –etwas, das von der indischen Gesellschaft bis heute nicht toleriert wird

Priya, die zu diesem Zeitpunkt ein Kleinkind von 2 Jahren ist, kann sich heute nicht mehr an ihre Mutter erinnern, dem desinteressierten und inzwischen psychisch kranken Vater ist sie seitdem nie mehr begegnet. 

Gemeinsam mit ihren älteren Schwestern Latika und Shwetha wächst das Kind in der Obhut der alkoholabhängigen Großeltern auf und hilft der analphabetischen Großmutter Gowramma bei deren täglichen Arbeiten. 


Die monatlichen 600 Rupien (umgerechnet etwa 10 Euro), die die Tagelöhner durch das Flechten von Bambuskörben und die saisonalen Erntearbeiten in den Kaffee- und Mangoplantagen der Region verdienen, reichen kaum, um die drei Enkelinnen durchzubringen. Es fehlt nicht nur an nährstoffreichem Essen und Kleidung. Den Kindern ist es außerdem vergönnt, zur Schule zu gehen, Schreiben und Lesen zu lernen, ein kindgerechtes Dasein erleben zu können. 

Der Wendepunkt

Durch das lokale Engagement VIKASANAs in Priyas Heimatdorf, zu dem aufklärende sowie einkommensfördernde Programme und die Gründung von Frauenselbsthilfegruppen zählen, werden Mitarbeiter der Organisation auf die Familie und deren Lebenssituation aufmerksam. Um sie dem Teufelskreis der Armut und Kinderarbeit zu entreißen und ihr die Möglichkeit auf Schulbildung zu geben, werden die 5-jährige Priya sowie ihre beiden älteren Schwestern Latika (9 Jahre) und Shwetha (8 Jahre) mit dem Einverständnis von deren Großmutter in die Brückenschule der NGO aufgenommen.

Fortschritte

Zuerst im Kindergarten, dann in der Schule lernt Priya lesen, schreiben und rechnen, die lokale Sprache Kannada, Indiens nationale Sprache Hindi und Englisch. Nachmittags erhält sie von den Lehrerinnen in der Brückenschule Nachhilfe und Unterstützung bei den Hausaufgaben, in den Ferien kann sie an Musikstunden und Computerunterricht teilnehmen. 


Im Zusammenleben mit den anderen Kindern der Brückenschule erfährt sie die Kindheit, die ihr bisher verwehrt gewesen ist: Morgens ist Zeit für Yoga und Meditation, abends wird gespielt, gesungen und getanzt. Dreimal täglich stillt eine warme, nährstoffhaltige Mahlzeit ihren Hunger. Für Kleidung, Bücher und Stifte ist ebenfalls gesorgt.




Ein bis zweimal im Jahr ermöglicht VIKASANA Priya und den anderen Kindern Ausflüge in die Umgebung, sogenannte Exposure Visits, während derer sie die lokalen Sehens-würdigkeiten bestaunen und mehr über ihre eigene Kultur lernen kann. Heute erinnert sie sich gerne an die Touren nach Mysore, Hampi und Coimbatore zurück und berichtet entzückt von prunkvollen Palästen und antiken Tempeln. 

Fragt man sie, was das Leben in der Brückenschule außerdem besonders macht, erzählt sie begeistert und in verständlichem Englisch von den bunten Abenden anlässlich des Besuches von Herrn Tepel, dem Direktor der Karl-Kübel-Stiftung aus Deutschland, während derer sich der Hof für einige Stunden in eine riesige Bühne verwandelt und Priya, als inzwischen ältestes Mädchen im Hostel, die Ehre zufällt, das Programm zu moderieren.

Doch auch die inzwischen so reife Jugendliche hat es nicht immer leicht. An manchen Tagen überkommt sie das Heimweh, dann vermisst sie ihre geliebte Latikakka, die inzwischen verheiratete Mutter der kleinen Danya ist. Durch den frühen Verlust ihrer Mutter hat Latika schon immer eine wichtige Rolle in Priyas Leben gespielt, ebenso Aji Gowramma, ihre Großmutter. Trost findet sie bei Freundinnen oder einem Telefonat mit ihrer Familie, die sie gelegentlich sonntags im Hostel besuchen kommt, um Süßes vorbeizubringen.    

Das Sponsorship Program und seine Bedeutung

Seit 2004 erhält Priya im Rahmen des Sponsorship Programmes, das die Karl-Kübel-Stiftung für Kind und Familie aus Bensheim in der Zusammenarbeit mit VIKASANA initiiert hat, Förderung durch ihre deutsche Sponsoren Christa und Dieter. Sie ist nicht nur dankbar für die jahrelange, großzügige finanzielle Unterstützung, sondern freut sich auch über die regelmäßigen Briefe ihrer Paten, in denen sie mehr über deren Familie und Kultur erfahren kann.

 „Eines Tages, Akka, möchte ich einmal dein Deutschland sehen und Tepel Sir, Onkel Dieter und Tante Christa besuche ich dann auch. Das wünsche ich mir“, verrät sie. Für alle Fälle hat sie inzwischen auch einige Brocken Deutsch gelernt „Wie heiß‘ du? Ich heißen Priya. Wie geht’s dia? Ein, Swei, Drei, Fia, Fümf, Einunzwanzi, Zweiuunzwanzi. Und was mas du? Schöne Träume, Schwesterherz!“

Reflexion

Wie bedeutend die Einflussnahme VIKASANAs für ihr Leben ist, kann Priya selbst jedoch kaum begreifen, war sie doch seit sie denken kann, in der Obhut der Brückenschule und behütet von den Schwierigkeiten, denen sich andere Kinderarbeiter ausgesetzt sehen. 

Während wir Freiwillige aber im Rahmen dieser Fallstudie auf dem schmutzigen Lehmboden im Hause ihrer Großmutter sitzen -um uns herum, zahlreiche Dorfkinder, mager, in zerschlissenen Kleidern und mit verfilztem Haar, die meisten Bambusarbeiter und Schooldropouts- wird uns bewusst, wie signifikant die Bedeutung des Sponsorship Programmes, wie großartig diese Chance für Priyas Entwicklung gewesen ist. 

Sicherlich ist es für die 15-Jährige noch ein langer Weg, ihren Berufstraum Anwältin zu verwirklichen, doch hat sie unterstützt durch VIKASANA  bereits bedeutende Schritte hinter sich bringen können. Ist sie doch so zu dem mutigen, verantwortungsbewussten und liebenswerten Mädchen geworden, dass sie heute ist.

Und der Weg geht weiter, der Sonne entgegen. Denn dann fallen die Schatten hinter sie.



*Alle Namen sind aus Gründen des Kinderschutzes geändert worden.

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