Sonntag, 26. Februar 2012

Auf verschlungenen Pfaden - eine etwas andere Lebensgeschichte

Heute ist Latika* 20 Jahre alt und Mutter der kleinen Danya. Sie lebt mit ihrem Mann, einem Traktor- und Rikshawfahrer, in einem ordentlichen Häuschen, einem entlegenen Dorf.  Auch die zwei jüngeren Brüder ihres Ehemannes, ein 22-jähriger Vollwaise, kommen bei der Familie unter.

Einst war es ihr Traum, Lehrerin zu werden, Kinder zu bilden und beim Lernen zu unterstützen. Inzwischen ist Latika trotz der verschlungenen Pfade ihrer eigenen Biografie diesem Traum wieder ein ganzes Stück nähergekommen. Nachdem die Hausarbeit geschafft ist, gibt die junge Frau abends Nachhilfeunterricht für die Kinder ihres Dorfes. 18 Schüler erscheinen regelmäßig, um sich von ihr bei den Hausaufgaben und der Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen unterstützen zu lassen. Ganz nebenbei verdient Latika so ihr eigenes Geld, 900 Rupien im Monat (umgerechnet fast 15 Euro) bedeuten hier ein wenig finanzielle Selbstständigkeit. Für eine junge Frau und Mutter im ländlichen Südindien ist dies bis heute etwas Außergewöhnliches.

Schon währende ihrer Schwangerschaft hat sich Latika weiterbilden wollen und einen Computerkurs absolviert, um ihrem Schicksal und dem gesellschaftlichen Rollenverständnis zu trotzen. Nun wird für den dörfischen Kindergarten eine neue Arbeitskraft gesucht. Dieser vom Staat bezahlte Job wäre problemlos mit ihrem Dasein als Mutter vereinbar und stellt für die junge Frau die Möglichkeit dar, doch noch ihren Berufstraum Lehrerin zur Wirklichkeit zu machen, somit finanziell unabhängig von den Einkünften ihres Mannes zu sein. Wie bedeutend diese Chance ist, darüber ist sich Latika sehr wohl bewusst. Ihre Bewerbung hat sie deshalb bereits abgegeben.

Die Vergangenheit

Nach dem Selbstmord ihrer Mutter Ranjitha lässt auch der junge Vater Kumar seine drei Töchter Latika, Shwetha und Priya zurück, rennt mit der damals nur wenige Monate alten, jüngsten Tochter Shilpa davon und heiratet ein zweites Mal –etwas, das von der indischen Gesellschaft bis heute nicht toleriert wird.

Elternlos und den gewalttätigen Schikanen ihres Onkels ausgesetzt bricht Latika, mit 8 Jahren die älteste der drei Zurückgelassenen, daraufhin in der dritten Klasse die Schule ab und beginnt, wie ihrer Großmutter Gowramma Bambusarbeiten zu verrichten. Die alkoholabhängigen Großeltern nehmen die drei Mädchen zwar zu sich, können mit ihrem Tageslohn von etwa 20 Rupien (umgerechnet weniger als 50 Cent), den sie durch das Flechten von Bambuskörben und die saisonalen Erntearbeiten in den Kaffee- und Mangoplantagen der Region verdienen, jedoch kaum für die Heranwachsenden sorgen, ihren Hunger stillen und ihnen Schulbildung und ein kindgerechtes Dasein ermöglichen.

Der Wendepunkt

Da sich VIKASANA im Rahmen von aufklärenden sowie einkommensfördernden Programmen und der Gründung von Frauenselbsthilfegruppen auch lokal in Latikas Heimatdorf engagiert, werden Mitarbeiter der Organisation auf die Familie und deren Lebenssituation aufmerksam. Um sie dem Teufelskreis der Armut und Kinderarbeit zu entreißen und ihr die Möglichkeit auf Schulbildung zu geben, werden die 9-jährige Latika sowie ihre beiden jüngeren Schwestern Priya (5 Jahre) und Shwetha (8 Jahre) mit dem Einverständnis von deren Großmutter in die Brückenschule der NGO aufgenommen.

Fortschritte

Durch die persönliche Förderung im Rahmen des Nachmittagsunterrichtes in der Brückenschule kann Latika sofort in die dritte Klasse eingeschult werden und meistert problemlos die folgenden Schuljahre. Die Abschlussprüfungen der zehnten Klasse schließlich legt sie erfolgreich mit der Note „B“ (Gut) ab. In den Ferien kann die Schülerin außerdem an Computerkursen teilnehmen und so weitere Qualifikationen für ihren beruflichen Werdegang erwerben.

In der Brückenschule erhält das Mädchen zudem dreimal täglich warme, nährstoffhaltige Mahlzeiten, Kleidung, Bücher und Stifte. Auch ihre medizinische Versorgung wird  von VIKASANA gewährleistet.

Neben Spiel und Spaß mit ihren Freundinnen finden Latika und die anderen Mädchen abends immer wieder Zeit zu tanzen und zu singen. Das Ergebnis wird dann gerne und stolzerfüllt während der bunten Abende anlässlich der Besuche von Herrn Tepel aus Deutschland präsentiert.

Ein bis zweimal im Jahr ermöglicht die Organisation den Kindern darüber hinaus Ausflüge in die Umgebung, sogenannte Exposure Visits, während derer sie die lokalen Sehenswürdigkeiten bestaunen und mehr über ihre eigene Kultur lernen können. Heute erinnert sich Latika gerne an eine drei-Tages Tour nach Hampi und die Ausflüge nach Mysore sowie an die Westküste und zu Wasserfällen zurück.
                                          
Fragt man Mitarbeiter der NGO nach der Entwicklung der jungen Frau, erinnern sie an ihre soziale, verantwortungsbewusste Art im Zusammenleben mit den anderen Kindern der Brückenschule sowie ihren hervorragenden schulischen Werdegang.        
                                                                    
Das Ende

Nachdem Latika die High School erfolgreich abschließt und in den folgenden Sommerferien für einige Wochen zu ihren Großeltern nach Hause zurückkehren darf, trifft die 17-Jährige einen jungen Mann, verliebt sich und heiratet ihn ohne das Einverständnis ihrer Familie – Liebesheiraten sind gesellschaftlich verpönt, bis heute arrangieren indische Eltern die Ehen ihrer Kinder. Zwei Jahre später bringt Latika ihre kleine Tochter Danya zur Welt.

Das Sponsorship Program und seine Bedeutung

Von 2004 bis 2009 hat Latika im Rahmen des Sponsorship Programmes, das die Karl-Kübel-Stiftung für Kind und Familie aus Bensheim in der Zusammenarbeit mit VIKASANA initiiert hat, Förderung durch deutsche Sponsoren erhalten. Noch heute fühlt sie sich mit ihren Paten für deren jahrelange finanzielle Unterstützung in großer Dankbarkeit verbunden und erinnert sich gerne an ihre herzlichen Briefwechsel zurück.

Reflexion

Auf unsere Frage hin, ob sie die Entscheidung bereut, so früh geheiratet und damit auf ihre weiterführende Schulbildung im College verzichtet zu haben, wird ihr Blick traurig. Sie sei sehr betrübt, nun das Leben in der Brückenschule, an das sie sich noch heute gerne zurückerinnert, und die gemeinsame Zeit mit ihren jüngeren Schwestern und Freundinnen missen zu müssen. Für ihre jüngere Schwester Priya, der in diesen Jahr die High School Abschlussprüfungen bevorstehen, wünscht sie sich eine bessere Zukunft und hofft, sie auf deren Weg unterstützen zu können.

Von dem, was Priya bisher bewegt und sie ermutigt hat, weiter ihrem großen Lebenstraum entgegen zu gehen, gibt es mehr in unserem letzten Post "Blicke der Sonne entgegen, dann fallen die Schatten hinter dich!" zu lesen.

Doch auch wenn Latika glaubt, ihre Chancen, ihr Leben verspielt zu haben, ist unser Eindruck ein anderer. Durch die Intervention VIKASANAs und die Teilnahme am Sponsorship Programm ist die einstige Kinderarbeiterin aus ärmsten und familiär problematischen Verhältnissen zu einer reflektierten und selbstbewussten jungen Frau geworden, die der Unstetigkeit ihrer eigenen Biografie trotzen kann und auf dem besten Wege ist, ein zweites Mal aus deren Trümmern aufzustehen. Einst halfen ihr die Mitarbeiter der NGO sowie die finanzielle Unterstützung aus Deutschland auf.

Diesmal wird sie es aus eigener Kraft schaffen, ihrem Traum Gestalt zu geben, auf eigenen Beinen zu stehen.

*Aus Gründen des Kinderschutzes sind alle Namen geändert worden.

1 Kommentar:

  1. Total schön ihr zwei! Das ist irgendwie voll schön mal zu lesen was au den "Kindern" der Brückenschule geworden ist. Und euer Blog ist natürlich auch wieder dieses Mal super schön geschrieben!
    Ich wünsch euch noch schöne letzte Tage im Projekt und natürlich auch viel Spaß beim Reisen!
    Liebe Grüße
    Jule

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